Seit fast 30 Jahren entwickelt Anna Seliger Konzepte für Ferienprogramme und Ganztagsbildung. Die Kulturmanagerin mit Wurzeln im niedersächsischen Oldenburg ist die Erfinderin des erfolgreichen Ferien- und Bildungsprogramms LILALU, Initiatorin und Leiterin des Projekts „Mädchen an den Ball” und bei A.PPLAUS als pädagogische Leitung und Bildungsexpertin tätig. Im Gespräch mit den Münchner Wochenanzeigern erklärt sie, warum sie sich für den Münchner Mädchenfußball stark macht.
Hinter jedem Verein steckt eine Motivation. Wie kam Biku e.V. zustande?
Anna Seliger: Biku ist die Abkürzung für Bildung und Kultur e.V., wir sind ein gemeinnütziger Verein und anerkannter freier Träger der Jugendhilfe und inszenieren, neben „Mädchen an den Ball“, künstlerische Bildungsprogramme und Ferienangebote für Kinder und Jugendliche im Alter von sechs bis 16 Jahren, die genauso sind wie deren Welt: bunt, kreativ und inspirierend. Mit unserer kulturpädagogischen und inklusiven A.PPLAUS-Ferienakademie, unserem Ganztagesprogrammen an unterschiedlichen Münchner Schulen sowie den Vertikaltuch-Wochenendkursen unserer Trendsportabteilung sind wir sehr erfolgreich unterwegs. Unsere Vision mit Biku e.V. war und ist es, ein Programm für Kinder und Jugendliche zu schaffen, das ihnen auf Augenhöhe begegnet, ihnen Raum für ihre eigenen Ideen lässt und sie gleichzeitig anleitet und ihnen aufzeigt, welche großartigen Möglichkeiten und Fertigkeiten in ihnen stecken.
Und wann entstand Ihre eigene Leidenschaft für den Fußball?
Anna Seliger: In erster Linie bin ich leidenschaftliche Pädagogin und schreibe auch sportpädagogische Konzepte, beispielsweise auch über Eishockey. Für mich ist Fußball eine tolle Möglichkeit, um dementsprechende Angebote für Kinder und Jugendliche umzusetzen. Fußball als Mannschaftssport fördert neben der Gesundheit auch die Persönlichkeitsstruktur, die Teamfähigkeit, die Integrationsbereitschaft, die Empathie, das Verantwortungsbewusstsein sowie die sportlichen Fähigkeiten. Bei „Mädchen an den Ball“ werden die Teilnehmerinnen nicht nur von professionell ausgebildeten Trainerinnen und Trainern betreut, sondern eben auch pädagogisch angeleitet.
Was war der Auslöser für das Projekt „Mädchen an den Ball“?
Anna Seliger:Ich denke wir alle sind uns einig darüber, dass der Mädchen- und Frauenfußball in Deutschland noch viel Luft nach oben hat. Es gibt insgesamt zu wenige Angebote für Mädchen, die Fußball spielen möchten. Dazu kommt, dass laut der aktuellen DFB-Mitgliederstatistik die Zahlen im Bereich des Frauen- und Mädchenfußballs auf Verbands- und Vereinsebene in alarmierender Weise rückläufig sind. München ist eine große Stadt und eine Fußballstadt noch dazu. Doch immer, wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich zu wenige Mädchen. Aus diesem Grund habe ich 2007 das Fußballkonzept „Mädchen an den Ball“ entwickelt, um Mädchen im öffentlichen Raum sichtbarer zu machen. Vor drei Jahren haben wir das Projekt neu aufgelegt und waren sofort erfolgreich.
Wie hat sich „Mädchen an den Ball“ seit Start im Jahr 2007 entwickelt? Was hat sich bei der Neuauflage des Projekts vor drei Jahren verändert und wie wird das Angebot inzwischen aufgenommen?
Anna Seliger: Pädagogisch und sozialpolitisch möchten wir erreichen, dass Mädchen stark werden und sich öffentliche Räume ohne Ängste mutig aneignen. Ziel des Projektes ist es, niederschwellige und breitensportbetonte Angebote nur für Mädchen zu schaffen. Wettkämpfe, Vereinsbindung oder andere Verpflichtungen gibt es nicht. Die Mädchen sollen mit Spaß und Freude ausprobieren, ob ihnen Fußball gefällt. Das war 2007 der Grundgedanke und ist es heute noch. Deshalb hat sich im Grunde bei der Neuauflage vor drei Jahren gar nicht viel geändert. Außer, dass wir von Beginn an überrannt wurden. Damit zeigt sich, dass wir mit „Mädchen an den Ball“ den Nerv der Zeit getroffen haben. Mittlerweile betreiben wir in ganz München 15 Standorte in 14 Stadtteilen und betreuen dort wöchentlich mehr als 300 Mädchen. Insgesamt spielen im Monat über 1000 Mädchen bei uns Fußball. Das ist eine beeindruckende Zahl, wie ich finde. Die hohe Nachfrage der Mädchen zeigt, dass wir den richtigen Weg eingeschlagen haben. Wir wirken damit zudem dem allgemeinen Trend im Mädchen- und Frauenfußball entgegen.
„Mädchen an den Ball“ ist unverbindlich, ohne Leistungsdruck und kostenlos. Wie finanziert sich das Projekt?
Anna Seliger:„Mädchen an den Ball“ wird von unterschiedlichen Sponsoren und Stiftungen wie etwa der Beisheim-Stiftung unterstützt. Zudem übernehmen die Bezirksausschüsse in den jeweiligen Stadtteilen die Kosten für die Trainer*innen und die Stadt München übernimmt die Verwaltungskosten und die pädagogische Begleitung an einigen Standorten. Mir war es von Anfang an wichtig, dass „Mädchen an den Ball“ kostenfrei ist. Wir möchten damit auch Mädchen erreichen, die sonst häufig keine Gelegenheit haben, außerschulische Sportangebote wahrzunehmen. Mit unserer gezielten sportlichen und soziokulturellen Projektausrichtung wollen wir den Mädchen zu einem neuen und gestärkten Selbstbewusstsein verhelfen: Die Entwicklung und Weitergabe sozialer, interkultureller und auch kreativer Kompetenzen stehen bei „Mädchen an den Ball“ ebenso im Vordergrund, wie das Erlernen der sportlichen Fähigkeiten selbst.
Viele Vereine setzen auf das Projekt, um Nachwuchsspielerinnen zu gewinnen. Gibt es offizielle Zahlen, wie viele Mädchen durch „Mädchen an den Ball“ in einen Verein eintreten und/oder am Spielbetrieb teilnehmen?
Anna Seliger: Offizielle Zahlen gibt es keine. Uns geht es in erster Linie darum, Mädchen für den Fußball zu begeistern. Der Erfolg unseres Projekts liegt sicherlich darin, dass wir nicht leistungsorientiert arbeiten – eben ganz ohne Vereinsgebühr und Ligabetrieb. Unser Konzept ist familienfreundlich und zeitgemäß in einem. Niemand muss pünktlich sein, denn die Mädchen können innerhalb der zwei Trainingsstunden dazukommen. Auch eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Allerdings, und das ist mir in diesem Zusammenhang ganz wichtig, sehen wir uns nicht als Konkurrenz zu den Vereinen. Vielmehr geht es darum, Synergien zu nutzen.
Wie stehen DFB und BFV zu dem Projekt?
Anna Seliger: Der Bayerische Fußball-Verband unterstützt „Mädchen an den Ball“, hier gibt es eine enge Kooperation. Und auch mit dem Deutschen Fußball-Bund stehen wir im Austausch, auch wenn es hinsichtlich einer Kooperation aktuell noch nichts Konkretes zu vermelden gibt. Aber erst kürzlich hat sich die DFB-Vizepräsidentin Silke Sinning „Mädchen an den Ball“ vor Ort angeschaut und war begeistert. Ich bin guter Dinge, dass es auch eine Kooperation mit dem DFB geben wird.
Haben Sie das Gefühl, Fußballmädchen und -frauen werden ausreichend von den Verbänden gefördert?
Anna Seliger:Nein, das habe ich definitiv nicht. Beim Mädchen- und Frauenfußball gibt es noch viel Luft nach oben. Das ist sowohl auf DFB- als auch auf BFV-Ebene so. Wenn man sich die Unterstützung für den Frauenfußball auf Verbandsebene in Ländern wie England, Frankreich oder auch Spanien anschaut, hinken wir sehr, sehr weit hinterher.
Wo bestünde Ihrer Meinung nach Verbesserungsbedarf seitens der Vereine und Verbände?
Anna Seliger: Das ist schwierig zu beantworten. Grundsätzlich geht es darum, die alteingesessenen, männerdominierten, patriarchalischen Strukturen im DFB aufzubrechen. Aber das ist sicherlich leichter gesagt als getan, weil gar nicht klar ist, ob das überhaupt gewollt ist. Immerhin gibt es nun auch Frauen im Führungsgremium des DFB. Das ist mal ein erster Schritt. Mir geht es eher darum, auf anderer Ebene etwas für den Mädchen- und Frauenfußball zu tun. Und ich denke, dass gelingt mit „Mädchen an den Ball“ sehr gut.
In den vergangenen Jahren kamen immer mehr Trainingsstandorte hinzu. Inzwischen sind es münchenweit 15, an denen an verschiedenen Wochentagen trainiert wird. Wie wurde bei der Standortsuche vorgegangen?
Anna Seliger: Die Standortsuche funktioniert im Grunde auf allen Ebenen – angefangen beim Sportamt und über die Stadt München an sich bis hin zu Tipps aus den Bezirksausschüssen. Wir suchen in den einzelnen Stadtvierteln immer ganz systematisch. Aktuell sind wir im Übrigen auf der Suche nach geeigneten Standorten in Bogenhausen, wo wir im Januar 2023 mit „Mädchen an den Ball“ starten wollen, sowie in Haidhausen. Interessierte Vereine können sich gerne jederzeit melden!
Gab es angesichts mangelnder Trainingsplätze in München Probleme?
Anna Seliger: Ja, die gibt es. In München fehlen geeignete Sportmöglichkeiten für Mädchen. Ich bin der Meinung, dass 50 Prozent aller Trainingsflächen für Mädchen reserviert sein sollten – gerade auch im Winter. Deshalb brauchen wir in München deutlich mehr Kunstrasenplätze.
„Mädchen an den Ball“ ist ein inklusives Angebot. Inwiefern sind die Trainerinnen und Trainer geschult, um körperlich und/oder geistig beeinträchtigte Mädchen einzubinden?
Anna Seliger:Alle Trainerinnen und Trainer erhalten ein Grundlagenseminar, um die Teilnehmerinnen bei Bedarf gezielt auch inklusiv betreuen zu können. Für die nahe Zukunft würden wir gern zudem eine neue Mitarbeiterin oder einen neuen Mitarbeiter einstellen, der oder die Erziehungswissenschaften beziehungsweise Sonderpädagogik studiert hat. Damit könnten wir das Angebot optimal abrunden.
Welche Auswirkungen hatte/hat Corona auf das Projekt?
Anna Seliger:Im Grunde konnten wir nur von Januar bis April 2020, als die Sportanlagen geschlossen waren, kein Training anbieten. Seit Ende April 2020 sind die „Mädchen an den Ball“-Standorte wieder geöffnet und waren sofort wieder voll. Es kamen viel mehr Mädchen, als wir angenommen hatten. Der Zulauf war und ist überwältigend.
Haben Sie seit Projektstart ein gesellschaftliches Umdenken in Bezug auf Mädchen- und Frauenfußball wahrgenommen?
Anna Seliger: Für München kann ich sagen, dass schon ein Umdenken stattgefunden hat. Das höre ich auch immer wieder von Eltern, die sich eigentlich gar nicht hätten vorstellen können, dass ihre Tochter wegen „Mädchen an den Ball“ eine Leidenschaft für Fußball entwickelt. Zudem finde ich es großartig, wie positiv sich der Bayerische Fußball-Verbandes uns gegenüber positioniert. Das gilt im Übrigen auch für viele Sportvereine sowie andere Sportverbände. Wir erhalten im Grunde nur positives Feedback und das kommt sicherlich dem Mädchen- und Frauenfußball zugute.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des weiblichen Fußballs?
Anna Seliger: Da fallen mir spontan zwei Schlagworte ein: die Gender-Pay-Gap und Gender-Equality. In diesen beiden Bereichen muss noch viel getan werden – gerade im Hinblick auf den Fußball, aber natürlich auch gesamtgesellschaftlich. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass in der Sportsatzung der Landeshaupt eine gezielte und Extra-Projektförderung nur für Mädchen verankert wird. Es braucht mehr Geld und Unterstützung für Mädchenfußballprojekte. Wir müssen gerade im Bereich des Mädchenfußballs neue Wege gehen, damit wieder mehr Mädchen Fußball spielen. Das lässt sich an unserem Projekt gut erkennen.