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Veröffentlicht am 15.07.2025 09:38

Bücher zeigen, wie schnell Menschen ihre Menschlichkeit verlieren


Johannes Beetz
Johannes Beetz
Chefredakteur
seit 1999 bei der Gruppe der Münchner Wochenanzeiger
Mitarbeit im Arbeitskreis Redaktion des Bundesverbands kostenloser Wochenzeitungen (BVDA)
Gewinner des Dietrich-Oppenberg-Medienpreises 2017 (Stiftung Lesen)
Wolfgang Borcherts Erzählungen in der Ausgabe von 1956 in Münchens erstem Bücherschrank am Nordbad. (Foto: job)
Wolfgang Borcherts Erzählungen in der Ausgabe von 1956 in Münchens erstem Bücherschrank am Nordbad. (Foto: job)
Wolfgang Borcherts Erzählungen in der Ausgabe von 1956 in Münchens erstem Bücherschrank am Nordbad. (Foto: job)
Wolfgang Borcherts Erzählungen in der Ausgabe von 1956 in Münchens erstem Bücherschrank am Nordbad. (Foto: job)
Wolfgang Borcherts Erzählungen in der Ausgabe von 1956 in Münchens erstem Bücherschrank am Nordbad. (Foto: job)

Der Mediziner, der Wolfgang Borcherts Körper obduzierte, wunderte sich: Wie konnte ein Mann mit einer derart geschädigten Leber so lange leben? Dabei war der Tote vor ihm gerade erst 26 Jahre alt.

Schullektüre

Borchert wurde 1941 zum Kriegsdienst eingezogen und musste am Vernichtungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion teilnehmen. An der Front zog er sich Verwundungen und Infektionen zu. Briefe, in denen er das NS-Regime kritisierte, brachten ihn während seiner Zeit als Soldat mehrmals ins Gefängnis. „Wehrkraftzersetzung“ nannte man das damals und bestrafte es ebenso unnachgiebig und gnadenlos wie heute andernorts solche, die Krieg „Krieg“ nennen.
Auch nach dem Krieg litt Borchert an schweren Krankheiten und einer Leberschädigung, die ihn schließlich ganz ans Krankenbett fesselten. Dort entstanden zwischen Januar 1946 und September 1947 etliche Kurzgeschichten. Darunter ist das Drama „Draußen vor der Tür“, das der Kranke in nur acht Tagen zu Papier brachte. Nicht einmal zwei Jahre blieben Borchert zum Schreiben; trotzdem wurde er einer der wichtigsten Nachkriegsautoren, dessen Stücke bis heute unverzichtbare Schullektüre sind.
„Draußen vor der Tür“ gibt einer Nachkriegsgeneration, die den physischen und psychischen Folgen des Krieges niemals entkommen wird, eine erste Stimme. Figuren wie „Beckmann, einer von denen“, „ein Kabarettdirektor, der mutig sein möchte, aber dann doch lieber feige ist“, „der Andere, den jeder kennt“ und „Frau Kramer, die nichts weiter ist als Frau Kramer, und das ist gerade so furchtbar“ zeigen den Unwillen und die Unfähigkeit der Gesellschaft, sich mit den Wunden des soeben überlebten Krieges zu befassen.

Menschendinge

Die Borchert-Ausgabe aus dem Bücherschrank am Nordbad stammt von 1956 und ist laut Geleitwort „vor allem für jene bestimmt, welche jetzt so alt sein mögen wie Wolfgang Borchert war, als er zum ersten Mal in den Kerker geworfen wurde“. Das sind die, die heute „Erstwähler“ sind und Krieg glücklicherweise nur aus PC-Spielen oder dem Fernsehen kennen und seine Folgen gar nicht.
Als Theaterstück löste „Draußen vor der Tür“ Borcherts Publikumserfolg aus. Es wurde am 21. November 1947 uraufgeführt. Am Tag zuvor war Borchert an den Folgen seiner Lebererkrankung gestorben.

Bücher zeigen, wie schnell Menschen ihre Menschlichkeit verlieren.

Die anderen drei

Wir stellen vier Bücher vor, die wir im Bücherschrank am Nordbad gefunden haben. Das sind die anderen drei aus unserem Quartett:

  • Lügengeschichte:
    Frances Sakoian / Louis S. Acker: „Das große Lehrbuch der Astrologie”. Zwei Herren wollen uns weismachen, dass „Jupiter im siebten Haus” unser Leben mehr beeinflusst als Familie, Freunde und die eigenen Entscheidungen.
  • Lebensgeschichte:
    Rita Mae Brown: „Rubinrote Rita”. 700-Seiten-Autobiografie einer Frau, die die einen als Ikone der lesbischen Frauenbewegung kennen, die anderen als Autorin von Katzenkrimis und wieder andere als Partnerin von Martina Navrátilová.
  • Literaturgeschichte:
    Patricia Duncker: „Die Germanistin”. Intelligenter und packender Debütroman über eine Leidenschaft und das Schreiben, über einen Schriftsteller und dessen Leser.

Wo steht er?

Der Bücherschrank am Nordbad steht - klar, vor dem Nordbad. 2013 aufgestellt ist er der älteste der heute über 30 Münchner Bücherschränke. Die zunächst von manchem recht skeptisch beäugte Idee brachten die Schwabinger damals aus Köln mit.

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