Wenn man 16, 17 oder 18 ist, fragt man sich, wer man eigentlich ist. Kommen eigene Kinder in dieses Alter, stellt sich die Frage, wo man steht. Nimmt man diese Situation nicht allzu ernst, nennt man sie „Midlife Crisis“. Ist man hingegen Poet, gelingen einem womöglich Zeilen wie diese:
„Es war in unseres Lebensweges Mitte /
Als ich mich fand in einem dunklen Walde /
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege …“
Dante Alighieri beginnt mit diesen Versen seine „Komödie“, die erst später „die göttliche“ genannt werden wird. 14 Jahre schreibt er an ihr, ersinnt 14.233 Verse, ordnet diese in exakt 100 Gesänge und vollendet sein epochales Werk gerade noch rechtzeitig, eher er 1321 stirbt.
Ein Panther, ein Löwe und eine Wölfin stellen sich dem Erzähler der „Komödie” in den Weg:
„Vor meinen Augen wich das Untier nimmer /
Dass mehrmals schon zur Umkehr ich mich wandte.“
Und es wird noch schlimmer: Das tückische Untier verschlingt jeden und seine Fresslust wird nach jedem Fraß nur noch größer. Was für ein Bild für das Gefühl, in einer Sackgasse zu stecken! Die Umstände nicht mehr kontrollieren zu können. In Gewohnheiten, to dos und „Situationen“ festzusitzen. Dantes Mittelalter scheint sich ähnlich angefühlt zu haben wie es stellenweise dem 21. Jahrhundert beliebt.
Damals wie heute haben „Situationen“ indes eines gemein: Man kann sie ändern. In der „Komödie” gibt der römische Dichter Vergil dem Erzähler diese so banale wie kluge Erkenntnis an die Hand:
„Auf einen andern Ausweg musst du sinnen /
Wenn du dem Schreckensorte willst entrinnen.“
Verraten wir es an dieser Stelle: Der Erzähler folgt dem Rat und kann nun seine Reise durch die drei Reiche Hölle, Fegefeuer und Paradies beginnen. Dort begegnet er Figuren der antiken, der biblischen und vor allem der mittelalterlichen Geschichte, die die Folgen ihres iridschen Tuns (er)tragen müssen. Sie werden mit ihren Leidenschaften, Erinnerungen, Verfehlungen oder Verdiensten vorgestellt: Sokrates, Judas und Odysseus sind unter ihnen; Päpste und Könige fehlen nicht.
Mörder und Räuber kochen in einem Blutstrom. Bestechliche büßen in heißem Pech. Diebe und Räuber werden pausenlos von Schlangen attackiert. Zornige müssen im Rauch umhergehen. Sie lernen, wie sie der Zorn blind werden ließ und ihre Urteilsfähigkeit untergrub.
Dantes „Göttliche Komödie” gilt heute als eines der größten Werke der Weltliteratur. Sie wurde zur Grundlage für die moderne italienische Sprache, denn der Dichter verfasste sie nicht auf Latein, sondern in der Sprache der Normalos. Italienisch war von da an „literaturtauglich”. Mit seinem Rückgriff auf Formen der Antike (Dante würdigt ausdrücklich Vergils 10.000 Verse umfassende „Aeneis”) trug Dante zudem dazu bei, dass sich Italien früh von der Gotik verabschiedete und die Renaissance „erfand”: Noch eine Situationsänderung, die nicht die schlechteste war.
Und die Menschen heute? Ganz gleich, ob sie sich in Himmel oder Hölle wähnen: Mit den Folgen ihres Tuns (und Nichttuns) müssen sie - wie in der „Komödie” - leben.
Bücher regen dazu an, auch mal über das eigene Leben nachzudenken.
Wir stellen vier Bücher vor, die wir im Bücherschrank Westend gefunden haben. Das sind die anderen drei aus unserem Quartett:
Der Bücherschrank Westend steht an der Tulbeckstraße 50. Er ist eine ausgediente Telefonzelle am Nachbarschaftstreff.